DIE DEUTSCHE MINDERHEIT IN UNGARN
In der FUEN vertreten seit 1989.
GESCHICHTE
Nach 150-jähriger türkischer Herrschaft in Ungarn wurden ab Ende des 17. Jahrhunderts deutsche Siedler ins Land gerufen. Die deutschen Siedler förderten im 18. Jahrhundert mit modernen Anbaumethoden die landwirtschaftliche Entwicklung Ungarns. Im 19. Jahrhundert dominierten sie Handwerkerberufe wie Maurer, Steinmetze, Dachdecker, Glasbläser, Metallgießer, Erzgießer, Dreher oder Klempner.
Die vor allem in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer stärker werdende Assimilationspolitik der Budapester Regierungen hatte ein zum Teil auch auf wirtschaftliche Ursachen zurückzuführendes Aufgehen des städtischen deutschen Bürgertums im Magyarentum zur Folge. Die deutsche Sprache und Kultur der Städte wurde zunehmend durch die ungarische Sprache und Kultur ersetzt. Diese Entwicklung setzte sich auch nach dem Ersten Weltkrieg innerhalb Ungarns fort, das als einer der Verlierer des Krieges etwa zwei Drittel seines Staatsgebietes an die Nachbarn abtreten musste.
Daher stützte sich der 1924 gegründete Ungarländisch-Deutsche Volksbildungsverein unter Jakob Bleyer vor allem auf das schwäbische Bauerntum. Der anhaltend starke Assimilationsdruck war ein Grund dafür, dass einige Ungarndeutsche die Verwirklichung ihrer hauptsächlich sprachlichen und kulturellen Forderungen nur mithilfe von Hitler-Deutschland für möglich hielten. Die ungarndeutsche Volksgruppe wurde insbesondere nach Beginn des Zweiten Weltkriegs zu einem Spielball der Interessen der beiden Verbündeten Hitler-Deutschland und Horthy-Ungarn und nach dem Zweiten Weltkrieg für Verbrechen, die im Namen des Dritten Reichs begangen wurden, mitverantwortlich gemacht. Mit der Vertreibung der Hälfte der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die deutsche Minderheit in Ungarn den größten Teil ihrer kulturellen Elite. Folgen für die heutige Situation hatte die Tatsache, dass eben jene Personen geflüchtet waren oder vertrieben wurden, die sich bei der Volkszählung 1941 zur deutschen Nationalität oder zur deutschen Muttersprache bekannt hatten. Dies wurde von der ungarischen Regierung nachträglich pauschal als Bekenntnis zu Hitler-Deutschland interpretiert.
Innerhalb der „marxistisch-leninistischen Nationalitätenpolitik“ des Einparteienstaates waren Versuche, eine tatsächliche Interessenvertretung der Ungarndeutschen zu schaffen, zum Scheitern verurteilt. Seit dem Ende der sechziger Jahre, der Zeit des „neuen Wirtschaftsmechanismus“, gab es wieder Freiräume für die sich neu herausbildende ungarndeutsche Elite. So konnte sich eine bescheidene Literatur entfalten, wurden bildende Künstler in die kulturelle Tätigkeit einbezogen und wissenschaftliche Forschungen – vor allem im Bereich Volkskunde und Mundarten – betrieben. Das wichtigste Anliegen war es, die Effektivität des deutschen Sprachunterrichts zu erhöhen. Seit 1982 erfolgt in zahlreichen Grundschulen der zweisprachige Unterricht, in Kindergärten gibt es deutschsprachige Gruppen.
Ab 1989 bildeten sich immer mehr Vereine auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene heraus. Bei ihrem ersten Landestreffen im November 1992 forderten sie mehr Demokratie und mehr Erneuerung auch bei den Ungarndeutschen. Bei den ersten Wahlen der Minderheitenselbstverwaltungen 1994–1995 entstanden 165 deutsche Selbstverwaltungen. Letztere bezeichnet die vom 1993 verabschiedeten ungarischen „Gesetz über die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten“ vorgegebene Form, die es Minderheiten ermöglichen soll, Autonomierechte wahrzunehmen.
Am 11. März 1995 wurde die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, das „Parlament“ der deutschen Minderheit, gewählt. Die Selbstverwaltungen helfen, die Interessen der ungarndeutschen Wähler durchzusetzen, pflegen Sprache wie Tradition, rufen Partnerschaften ins Leben und fördern wirtschaftliche wie kulturelle Belange. Sie tragen zusammen mit der ungarndeutschen Gemeinschaft zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen bei. Die Besinnung auf traditionelle Werte der ungarndeutschen Kolonisten ist dabei gemeinsame Grundlage und Antrieb zugleich.
GEGENWÄRTIGE LAGE
Die Ergebnisse der Volkszählung von 2011 machen im Verhältnis zu jener aus dem Jahre 2001 eine positive Entwicklung deutlich: 185.696 Bürger bekannten sich zur deutschen Minderheit (2001: 62.105). Auch die Zahl der Muttersprachler stieg leicht an und betrug 38.248 (2001: 33.774). 95.661 Befragte gaben Deutsch als am liebsten gesprochene Sprache an (2001: 52.912).
Die Chance, einen ungarndeutschen Abgeordneten ins Parlament zu wählen, haben die Ungarndeutschen 2014 noch verpasst, aber vier Jahre später gelang es, einen ungarndeutschen Parlamentsabgeordneten ins Hohe Haus zu wählen. Mit über 26.000 Stimmen wurde Emmerich Ritter zum ungarndeutschen Parlamentsabgeordneten gewählt. Unter seinem Vorsitz konnte der Nationalitätenausschuss mehrere Initiativen zur Verbesserung der Lage der Minderheiten durchsetzen.
Bei den Nationalitätenwahlen im Oktober 2019 wurden in mehr als 400 Städten und Gemeinden und in 14 Landkreisen lokale bzw. regionale Vertretungskörperschaften der Minderheit gewählt. Die 47-köpfige Vollversammlung der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU) vertritt die Interessen der Ungarndeutschen auf gesamtstaatlicher Ebene. Sie bemüht sich, die kulturelle Autonomie der Ungarndeutschen wiederherzustellen und ist Trägerin der wichtigsten Bildungseinrichtungen (Valeria-Koch-Bildungszentrum Fünfkirchen/Pécs, Friedrich-Schiller-Gymnasium Werischwar/Pilisvörösvár, Budapester Deutsches Nationalitätengymnasium). Darüber hin aus ist die LdU beteiligt an den Trägerstiftungen des Ungarndeutschen Bildungszentrums Baje/Baja und der Audi-Hungaria-Schule Raab/Győr. Die rundum erneuerte, im September 2016 wiedereröffnete Deutsche Bühne in Seksard/Szekszárd, das Haus der Ungarndeutschen mit dem Ungarndeutschen Kultur- und Informationszentrum und Bibliothek in Budapest, der Iglauer Park in Waschludt/Városlöd oder auch die Beteiligung am Lenau-Haus in Fünfkirchen/Pécs sind weitere Eckpfeiler der kulturellen Autonomie. Auch die örtlichen deutschen Selbstverwaltungen nutzen zunehmend die Chance, Kindergärten oder Grundschulen in ihre Trägerschaft zu übernehmen. Derzeit werden 67 Bildungsinstitutionen von örtlichen ungarndeutschen Selbstverwaltungen getragen.
AUSBLICK
Strategisch denken, nachhaltig handeln – dieses Ziel verfolgend legte die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen 2015 ihre Strategie bis 2020 vor, die 2021 evaluiert und aktualisiert wurde. Die Erarbeitung des Zukunftsbildes beruht auf landesweiter Zusammenarbeit der Ungarndeutschen und gibt feste Orientierungspunkte bezüglich der Bereiche Politik, Kultur, Bildung, Jugend und Kommunikation. Die wichtigsten Elemente des Leitbildes sind der Einsatz für ein korrektes, reales und unbefangenes Bild über Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Minderheit in Ungarn, die Erhöhung der Zahl der Bildungs- und Kultureinrichtungen in eigener Verantwortung und ein auf zeitgemäßen, modernen Methoden basierendes Schulwesen, die kontinuierliche Erweiterung der kulturellen Autonomie, die Aktivierung der Jugendlichen und ihre Einbindung in die Nationalitätenpolitik sowie zielgerichtete Kommunikation. Bei der Umsetzung ihrer Strategie hofft die Landesselbstverwaltung auf viele Unterstützer und Partner sowohl von ungarischer als auch von deutscher Seite.